Geschichten, Geschichten, Geschichten

Text © Ingrid Passweg (Lernbegleiterin in Pension), Bilder © Ingrid Passweg, Pia Wenzel (Lernbegleiterin A5)

Geschichten als Spielplatz und Spiegel der Kinderseele

Ein "Nachruf"

Die A5, früher Stammgruppe J, in der ich seit 15 Jahren unterrichte, ist eine Klasse mit dem Schwerpunkt Freinetpädagogik. Das Erfinden von Geschichten hat deshalb bei uns einen zentralen Stellenwert.

 

Wir beginnen in der A5 mit der Blockschrift als Ausgangsschrift. So können auch schon unsere Jüngsten zu ihren Zeichnungen erste Wörter und Sätze zu Papier bringen. Oder wir LehrerInnen schreiben ihre Geschichten auf, genau so, wie die Kinder sie uns diktieren.

 

 

Es war und ist für mich noch immer ein besonderes Geschenk, das Wachsen der Persönlichkeit eines Kindes anhand seiner Geschichten zu erfahren und zu begleiten. Geschichten entfalten einen eigenen Zauber, den nicht nur ihre Autorinnen, sondern auch wir LernbegleiterInnen spüren. Die meisten Kinder lieben Geschichten. Eigene Geschichten sind Spielplatz und Spiegel ihrer Seele. Auf einem Spielplatz trainieren Kinder Kontakt, Kooperation, Mut, Kraft, Geschicklichkeit, Ausdauer, Kreativität, Strategien zur Angstbewältigung und vieles mehr. Ähnliches tun sie auch in ihren Geschichten.

Sie können alles sein in ihrer Geschichte: ein Schuh, eine Superheldin, ein Stift, ein magisches Tier, ein Räuber… und sie können alles mögliche machen, was in der Wirklichkeit nicht oder noch nicht geht. Man sieht durch ihre Geschichten wie durch einen ein Spiegel in ihre innere Welt.

 

Daher ist es für uns logische Konsequenz, in Kindertexte grundsätzlich nicht „hineinzuverbessern“. Statt dessen tippen wir sie in den Computer und korrigieren dort die Rechtschreibung und den Satzbau nur soweit, dass die Geschichte verständlich ist. Jedes Kind bekommt eine Abschrift seiner Geschichte. Die meisten sind stolz darauf und lesen sie gerne vor, im Präsentationskreis ebenso wie zuhause.

 

 

Aus den Geschichten entnehmen wir auch die individuellen Lernwörter für jedes Kind. Das erscheint sinnvoll, weil jene Wörter geübt werden, die das Kind auch tatsächlich verwendet.

Sie können außerdem als Grundlage von Sprachbetrachtung und Grammatikübungen dienen.

 

In vielen Jahren Geschichtenwerkstatt sind unterschiedliche Sammlungen entstanden wie kleine Leseheftchen für die Klassenbibliothek, Bilderbücher, Klassentagebücher, individuelle Bücher, Fortsetzungsgeschichten, Gedichtbände und vieles mehr.

Unsere Adventstadt - eine ganz besondere Geschichtensammlung

Samuel, ein ehemaliger Schüler unserer Klasse kam mit der Idee, doch einmal einen besonderen Adventkalender für die Klasse zu basteln, eine Adventstadt mit 24 Häuschen. Unser Kollege Rudi nahm die Idee auf und entwickelte sie weiter.

Schließlich bauten alle Kinder emsig an ihrem Häuschen. Mit Christbaumverkaufsstand, Punschhütte, Kirche und Postamt wurde die Stadt endgültig zu ihrer Stadt. Als dann auch noch der Strom in die Stadt kam, war das Werk perfekt und die Begeisterung groß! Jedes Kind zog eine Nummer für sein Haus und schrieb dazu eine Geschichte. Ab dem 1.Dezember wurde jeden Tag das Fenster eines Häuschens geöffnet. Ein Kind schaute aus dem erleuchteten Haus und seine Geschichte war zu hören. Was für ein Erlebnis!

Möglich wurde diese besondere Form des Geschichten Erfindens durch die Arbeit in unserem schuleigenen Tonstudio.

 

 

 

 

An dieser Stelle möchte ich Folgendes erwähnen: Ich bin sehr stolz auf meinen langjährigen Kollegen Rudi, der nicht nur das Tonstudio initiierte und einrichtete, sondern auch mit viel Know how, Geduld und Spaß an der Sache mit den Kindern darin kleine Meisterwerke produziert. Bei der jährlichen Weihnachtsfeier bringen die Minihörspiele jedes Jahr Kinder, Eltern und uns zum Staunen und Schmunzeln.

Anfang November stellt sich unser Team seither die immer gleichen Frage: „Machen wir es heuer oder nicht? Ist ja doch eine ganze Menge Arbeit.“ … Und dann machen wir es, weil es so schön ist.

Das und noch viel mehr wird mir fehlen.

Ingrid P.

 

 

Am 30. November 2020 war mein letzter Arbeitstag. Ich danke allen Kindern, Kolleginnen und Eltern, die in vierzig Berufsjahren mit mir ihre Geschichte(n) geteilt haben.

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